Crailsheim - Schwäbisch Hall - Hessental
Öhringen Hbf - Heilbronn Hbf (- Eppingen)
1862 - 2021 (Eröffnung 02. August 1862)
Im Eisenbahnfieber
von Fabian Lübker
Ein trüber Nachmittag, irgendwann im Herbst 1979. Vor einigen Monaten hat uns
das Eisenbahnfieber befallen. Der Verlauf ist zyklisch: wie Malariakranke ihre Pillen,
brauchen wir jetzt alle ein, zwei Wochen unsere Züge, und zwar möglichst viele,
möglichst lange und möglichst schnelle Züge.
Bahnhof Bretzfeld. Wir sitzen schon eine Weile auf einem Geländer am Bahnsteig
Richtung Öhringen. Von hier aus kann man das Bahngelände und die schnurgerade
Strecke nach Heilbronn perfekt überblicken.
Die silbern glänzenden Schienen scheinen sich an einem Fluchtpunkt irgendwo im
Einschnitt bei Scheppach zu berühren.
Endlich löst sich dort ein Schatten aus dem Dunst. Schnell kommt der Zug näher;
schon ist er über dem Brettachtalviadukt; ein paar Sekunden später rauscht er an
uns vorbei. Es führt eine rote Diesellok der Baureihe 215, dahinter drei vierachsige
Umbauwagen und einen alten Behelfs-Gepäckwagen. Der Zug fährt durch; nicht alle
Züge halten in Bretzfeld. Es riecht nach Dieselabgasen; die Schienen sirren noch für
einen Moment, dann ist es wieder still.
Ein kurzes Vergnügen, gemessen an der Wartezeit.
Doch kaum sind die Wagen hinter der Rechtskurve Richtung Öhringen
verschwunden, nähert sich von dort ein kurzer Güterzug. Überglücklich stellen wir
fest, dass der Zug abbremst und in ein Nebengleis einfährt. Ein Rangierer in blauem
Drillichanzug steigt aus und kuppelt die Lok ab. Die rote KÖF 3 löst sich vom
Zugverband und rangiert eine gute Viertelstunde lang. Am Freiladegleis, beim
Baustoffhandel Kuch und am Güterschuppen stehen zwei Wagen herum, die
abgeholt und gegen andere ausgetauscht werden müssen. Solche Live-Szenen sind
für uns natürlich die reinsten Filetstücke. Toll, wenn man mal länger als nur ein paar
Sekunden ´was zu sehen bekommt!
Die Abläufe beim Rangieren sind dieselben auf meiner Modellbahn, nur langsamer.
Die Waggons müssen von Hand an- und abgekuppelt werden; die Weichen müssen
umgestellt, bei der Lok muss immer wieder die Fahrtrichtung umgeschaltet werden.
Schließlich ist der Zug neu zusammengestellt und wartet auf dem Nebengleis. Die
Lok steht dabei nicht weit von uns entfernt, der Diesel wummert leise vor sich hin.
Der Zug, auf den der Nahgüterzug noch warten muss, kommt nach zehn Minuten
aus Öhringen. Er wird langsamer und hält. Wieder eine rote 215, wieder drei grüne
Vierachser. Als die Lok wieder beschleunigt und an uns vorbeifährt, vibriert der
Boden. Wir können auf einem Blech-Zuglaufschild lesen: “Schwäbisch
Hall/Hessental-Heilbronn”.
Der letzte Wagen zieht eine kleine Dampffahne hinter sich her: da ist wohl die
Leitung der Dampfheizung nicht ganz dicht.
Ein paar Fahrgäste sind in Bretzfeld ausgestiegen; nach und nach verlassen sie den
Hausbahnsteig.
Nach einigen Minuten nimmt auch der Übergabe-Güterzug Fahrt auf.
Eigentlich können wir heute nicht klagen. Nur selten hatten wir das Glück, innerhalb
kurzer Zeit drei Züge zu erleben. Trotzdem warten wir noch eine Weile- und werden
belohnt: Aus Heilbronn dröhnt pfeilschnell ein Zug heran - schneller als andere! Jetzt
gilt es, in Sekundenschnelle möglichst viele Details zu beobachten: Es zieht eine
ozeanblau-beige 218. Die Wagen sind keine grünen Nahverkehrswagen, sondern D-
Zug Wagen mit abgerundeten Dächern. Einige sind ozeanblau-beige, andere noch
ganz im klassischen D-Zug-Grün lackiert. Es sind deutlich mehr als drei Wagen,
eher sechs oder sieben. Auf einem Zuglaufschild lesen wir “ D xxx Saarbrücken-
Nürnberg”. Da ist uns unverhofft ein dicker Fisch ins Netz gegangen- einen D-Zug
haben wir hier bisher nicht gesehen. Mit diesem Erfolgserlebnis im Gepäck machen
wir uns auf den Heimweg.
Die Dampflokära war auf der Hohenlohebahn erst drei Jahre zuvor zu Ende
gegangen. Seither dominierten Lokomotiven der Baureihe 215 den Nah- und den
Güterverkehr. Die wenigen D-Züge waren meist mit 218 bespannt. Auch
Schienenbusse und 212 waren auf der Strecke unterwegs. Gesehen haben wir die
bei unseren Exkursionen aber fast nie. Typisch für die Nahverkehrszüge waren
grüne, vierachsige Umbauwagen, in denen es immer noch ein wenig nach Dampflok
roch. Seltener waren “Silberlinge”.
Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, dass der gesamte Bahnkörper bis in die
Nebengleise hinein frei von jeglichem Bewuchs war. Kein Grashalm war da zu
sehen. An den Seitenhängen des Bahndammes über das Brettachtal durfte das
Gras wachsen, wurde aber kurz gehalten (früher wurde das Gras sogar jährlich
abgebrannt), so dass auch die Bildung von Gebüschen schon im Keim erstickt
wurde. Das Ergebnis war perfekte Sicht entlang der Strecke.
Ab 1980 mussten wir zur Schule nach Öhringen fahren und verlagerten daher
unseren Beobachtungsposten dorthin. Öhringen war ergiebiger; dort wurde mehr
rangiert. Außerdem hielten alle Personenzüge. Wir konnten etwas Bahnhofsluft
schnuppern und vor allem den Anblick und den satten Großdiesel-Sound der 215er
beim Anfahren genießen.
Zwischen Bahnhof und Bahnhofskiosk war ein halbhoher Zaun. Um auf den
Bahnsteig zu gelangen, musste man deshalb durch das Empfangsgebäude gehen.
Meist blieben wir aber lieber am Zaun stehen, denn die Bahnbeamten sahen es
nicht gerne, wenn Kinder stundenlang auf dem Bahnsteig herumlungerten.
Den Rangierverkehr konnte man besser von der östlichen Seite des
Bahnhofsgebäudes beobachten. Neben den Stückgutwagen gab es reichlich
Wagenladungsverkehr, unter anderem zum Gleisanschluss der Firma Huber.
Östlich des Empfangsgebäudes stand der Güterschuppen mit seinen großen Toren
und der Rampe, an der Kleinlaster das Stückgut abholten und im Auftrag der
Bundesbahn zu den Empfängern in der Stadt und im Umland brachten. Damals
arbeiteten noch mehrere Leute in der Güterabfertigung.
Eine Fußgängerunterführung zwischen den Bahnsteigen gab es in Öhringen nicht.
Wenn man vom Hausbahnsteig auf den Bahnsteig für Gleis 2 und 3 gehen wollte,
musste man Gleis 1 überqueren.
Zwischen Gleis 1 und dem Nachbarbahnsteig war daher eine Schranke, die der
Bahnbeamte bei Bedarf von Hand zuziehen musste, wenn ein Zug auf Gleis 1
durchfuhr.
Unangenehm wurde es, wenn man aufs Klo musste. In dem WC-Gebäude, einem
nüchternen Zweckbau aus den 50ern, konnte es vor allem im Sommer penetrant
nach einem Geruchsmix aus Ammoniak (vom abgestandenen Urin) und Naphtalin
(von den “Duft”-Steinen in den Pissoirs) stinken.
Aber das WC war tagsüber immer geöffnet und man konnte die Pissoirs kostenlos
benutzen.
An einem Wochenende Anfang der 80er waren am Öhringer Bahnhof “Tage der DB”,
eine Art Bahnhofsfest, vor allem aber eine Werbeaktion für die Bahn. Man konnte
z.B. für ca.2 DM im Führerstand einer Diesellokomotive mitfahren. Weit kam man
dabei nicht; die Lok fuhr nicht einmal bis Cappel, wendete noch in Sichtweite des
Bahnhofes Öhringen. Aber immerhin erklärte der Lokführer alle Hebel, Stellräder
und Ventile und demonstrierte, wie die Sicherheitsfahrschaltung eine
Zwangsbremsung auslösen kann. Das höchste der Gefühle: Ich durfte am Handrad
eine Fahrstufe höher schalten!
Auch das Drucktastenstellwerk, das im Bahnhofsgebäude in einem Raum hinter der
Fahrkartenausgabe stand, konnte man besichtigen.
Toll war, dass an diesem Wochenende ein TEE (Trans-Europ-Express) auf der
Strecke zwischen Öhringen und Heilbronn pendelte, mit rot-beigen TEE-Wagen
erster Klasse, die Sitze in den Abteilen ungewohnt weit auseinander, der ganze Zug
klimatisiert, braun getönte Scheiben. Die Fahrt kostete “retour” für Kinder nur ein
paar Mark.
Dazu gab es natürlich Würste und reichlich Getränke, für die Kleinen Luftballons und
Fähnchen.
Schade, dass ich keine Bilder von unseren Ausflügen an die Hohenlohebahn habe.
Damals hatten wir keine Fotoapparate. Was bleibt ist die Erinnerung an schöne
Nachmittage in einer zumindest eisenbahntechnisch noch ganz anderen Zeit.